Engelszorn 1-4 by Thomas Alex

Autor:Thomas, Alex [Thomas, Alex]
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: blanvalet
veröffentlicht: 2015-07-30T16:00:00+00:00

39

Richter hatte Bella Medici in den kleinen Schlafraum getragen und dort aufs Bett gelegt, wobei ein Bündel Zeichnungen aus ihrer Jacke auf den Boden gefallen war. Sofort hatte er den Stil des Jungen erkannt. David hatte die Schrecken der letzten Stunden und Tage in diesen Bildern festgehalten. Selbst das Brennen und Sterben der Mönche im Refektorium von San Leonardo war in einer der Zeichnungen erschreckend realistisch dargestellt.

Er rüttelte die kleine Frau mit dem dunklen, schulterlangen Haar vorsichtig an der Schulter und sprach sie an, damit sie wieder zu sich kam. David saß auf einem Stuhl daneben und beobachtete ihn, wobei er weder Unruhe noch Angst oder Nervosität zeigte. Der Junge stand nicht unter Schock, hatte ihn sogar wiedererkannt, doch irgendetwas gestattete ihm nicht, ganz Teil dieser Welt zu sein. Allerdings musste Richter sich jetzt erst einmal um Bella kümmern. Es war wichtig, dass die junge Frau für ihr eigenes Überleben die Kontrolle über ihr Bewusstsein wiedererlangte.

Endlich öffnete Bella benommen die dunkelbraunen Augen. Richter bettete ihre Beine höher, damit das Blut besser zu den Organen und zum Gehirn zirkulieren konnte. Kalter Schweiß bedeckte die Haut der jungen Frau, aber sie zitterte nicht. Er deckte sie zu, redete beruhigend auf sie ein und sah zu, wie das Leben in sie zurückkehrte.

Anschließend kümmerte er sich um David, den er ebenfalls in eine Decke gehüllt hatte. Irgendetwas hielt den klugen Geist des Kindes nach wie vor in seinem Griff. Dann entdeckte der Wissenschaftler jene Bleistiftskizze, die eine vergrößerte Abbildung der archäologischen Fotografie war. Sie zeigte vor allem das Skelett mit den verkrüppelten Knochenstummeln auf dem Rücken. Plötzlich ahnte Richter, was mit dem Kind geschehen war.

Er selbst hatte die Fotografie Abt Umberto für die Sondierungssitzungen in den unterirdisch angelegten Isolationskammern der Abtei überlassen, in der Hoffnung, dass David über das mediale Betreten des Bildes eine Lösung für das Angelus-Problem finden würde. Wie es aussah, hatte der Junge die Fotografie während des Anschlags auf das Kloster sondiert und seither nicht mehr verlassen können. Seine Seele hing nun zwischen den Welten, zwischen Raum und Zeit fest. Richter hatte keine Ahnung, wie er David aus diesem Bilderlimbus befreien sollte. Zumal Abt Umberto, der die Sondierung vermutlich als Schutzpatron überwacht hatte, tot war.

Richter erinnerte sich daran, was der Abt ihm über die faszinierendste aller Gaben gesagt hatte. Es sei wie das Anzapfen des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit, das alles, was sich jemals unter Gottes Sonne abgespielt hatte, minutiös aufzeichnete und auf quantenmechanischer Ebene an nachkommende Generationen tief im Unterbewusstsein weitergab. Dahinter liege die unterste Schicht des kosmischen Bewusstseins, jenseits von Zeit und Raum, jene Erkenntnisebene, die Seher und Visionäre zu berühren in der Lage waren. Im Grunde war alle Schöpfung reine Energie, von zigfachen Erinnerungen in Form von Gefühlen und Bildern durchdrungen. Deshalb war alles eine Frage der Schwingung, der richtigen Frequenz.

»Aber wie genau macht er das?«, hatte Richter den Abt in der beeindruckenden Bibliothek, einem turmähnlichen Anbau der Abtei voller alter und moderner Texte, nach einer der Sitzungen gefragt. »Wie knackt David diesen … Zugangscode?« Unwillkürlich musste er an Eliza denken und daran, wie sehr sie diese Gabe, diese Forschung interessiert hätte.

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